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Interview
mit dem chinesischen Taiji-Meister Yang Zhenghe
Meister
Yang ZhengHe mit Großmeister Yang Zhenduo (1926-2020)
Linienhalter 4.Gerneration Yang-Stil
Die
Bedeutung der Technik
Meister Yang,
Sie sind mit der Entstehung und Entwicklung des Yang-Stil-Taijiquan
sehr vertraut. Können Sie uns etwas über die Aspekte erzählen,
die unter den Taiji-Übenden noch wenig bekannt sind?
Wie alle wissen,
hat der Altmeister Yang Luchan das Taijiquan bei dem Altmeister des
Chen-Stils Chen Changxing gelernt und daraus später den Yang-Stil
entwickelt. Zu dieser Zeit waren die Bewegungen und die Art und Weise
der Ausführung der ersten Form (Yilu) des Chen-Stils noch sehr
ähnlich. Erst der Altmeister Yang Zhaoqing, der Enkelsohn von Yang
Luchan, bekannt als Yang Chengfu, modifizierte während seiner späteren
Lehrtätigkeit in Beijing den Yang-Stil. Um seinen Schülern
gerecht zu werden, führte er die Form langsamer aus und nahm einige
schwierige Bewegungen wie Sprünge heraus. Außerdem hob er
die gesundheitsfördernde Funktion des Taijiquan hervor. Zu diesem
Zweck reduzierte er die ursprünglichen 108 Folgen der Form auf
85. Im Ausland ist nicht so bekannt, dass eine alte Form (Laojia) des
Yang-Stils, die auf den Altmeister Yang Jianhou, einen der Söhne
von Yang Luchan, zurückzuführen ist, noch existiert. Sie wird
hier in Yongnian und in manchen
Gegenden in Nordchina weiterhin praktiziert. Diese traditionelle alte
Form wird recht dynamisch ausgeführt, der Ursprung in der Kampfkunst
ist noch deutlich zu erkennen. So werden zum Beispiel die Beine höher
gehoben und häufiger Wechselschritte ausgeführt. Der Körper
bleibt nicht auf gleicher Höhe, sondern bewegt sich auf und ab.
Die Form hat zwar mehr Figuren, durch die dynamischere Ausführung
wird jedoch nicht mehr Zeit für die Ausführung benötigt.
Übende merken schnell, dass diese alte Form eine Vielzahl körperlicher
Vorzüge bringt. Nach dem Üben fühlt man sich locker und
gelöst und hat ein deutliches Gefühl der Entspannung und Bewegungsfreiheit,
stärker als bei der modifizierten Yang-Stil-Form. Die alte Form
ist zwar etwas schwieriger zu erlernen, kann aber dennoch von allen
geübt werden. Das ist nur eine Frage von Zeit und persönlichem
Einsatz. Vorteilhaft ist, wenn man die Form nach Yang Chengfu mit 85
Folgen bereits erlernt hat.
Verschiedene
Lehrer eines Stils unterscheiden sich oft in der Art der Ausführung
der Formen und im Bewegungscharakter. Für Lernende ist dies verwirrend.
Was kann man dagegen tun?
Jeder Mensch ist anders, deswegen hat jeder Lehrer seine eigene Art
und zeigt auch seinen eigenen Stil und Charakter. Trotz dieser Unterschiede
werden sie immer die gleichen Prinzipien beachten und unterrichten.
Solange die Grundprinzipien des Taijiquan bewahrt bleiben, sollte es
kein Problem sein, gleichzeitig von verschiedenen Lehrern etwas anzunehmen.
Die unterschiedlichen Nuancen sind oft nicht entscheidend und werden
häufig durch persönliche Gegebenheiten bedingt. Zum Beispiel
ist es unterschiedlich, wieviel Gewicht zurückverlagert werden
muss, um einen Schritt zu machen. Anders ist es, wenn ein Fehler weitergegeben
wird, wenn etwa der Ellenbogen zu hoch gehalten wird. Diese Haltung
würde den entsprechenden Körperteil blockieren und in seiner
Bewegung beeinträchtigen. Außerdem kann man die Stoßkraft
des Gegners nicht mehr auffangen und neutralisieren, und der Schwerpunkt
des Körpers verschiebt sich nach oben. Dies wirkt sich natürlich
nachteilig aus. Aber ein Schüler wird auch damit zurechtkommen
müssen und den Fehler später korrigieren. Die anfängliche
Verwirrung wird mit der Zeit weniger werden und verschwinden. Durch
die gewonnenen Erkenntnisse in der Praxis lernt man, das Wesentliche
vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Günstig ist, wenn ein Schüler
zunächst bei einem Lehrer bleibt und so lange von ihm lernt, bis
seine Fähigkeiten und sein Wissen ein gewisses Niveau erreicht
haben. Danach wird er von anderen Lehrern nicht mehr so leicht verunsichert,
selbst wenn diese ganz anders sind als der frühere.
Können
Sie etwas zu Paochui (Kanonenform)
im Yang-Stil sagen?
Es existiert in der Tat eine Paochui-Form im Yang-Stil. Leider ist sie
kaum bekannt. Diese Explosionsform umfasst insgesamt mehr als dreißig
Bewegungen und wird sehr dynamisch geübt. Ausführung und Methodik
dieser Form ähneln im Großen und Ganzen der Paochui des Chen-Stils.
Wie wichtig sind die Partnerformen für Taiji-Übende?
Tuishou ist sehr wichtig für Taijiquan. Technisch kann sich der
Übende weiterentwickeln und erkennen, bei welchen Bewegungen er
die Grundprinzipien des Taijiquan noch nicht richtig anwendet. Die Bewegungen
werden geschmeidiger und gewinnen an Ausdruck, die Koordination zwischen
Geist und Körper funktioniert leichter, wie in einem Zwiegespräch.
Auch wird durch Tuishou das „Vorausahnen” geschult. Dadurch
behält man den Überblick über die gesamte Form. Man durchläuft
einen gewissen Reifungsprozess. Umgekehrt kann man Tuishou nicht praktizieren,
wenn die Bewegungen in der Form nicht richtig gelernt und genügend
geübt werden. Wie soll man Peng-Jing (nach außen gerichtete
Spannung, dehnende Kraft) einsetzen, wenn man die Peng-Bewegung bei
„Spatzenschwanz fangen” nicht korrekt ausführen kann?
Daher bin ich der Meinung, dass Form und Tuishou gleichermaßen
beachtet und geübt werden sollten, um im Taijiquan weiterzukommen.
Ist es für das Üben wichtig zu wissen, dass Taijiquan
seinen Ursprung in der Kampfkunst hat?
Dieses Wissen kann uns helfen, Bewegung und Körperhaltung sinngemäß
und dadurch korrekt auszuführen. So gewinnen der Stand an Stabilität
und die Bewegungen an sinnvollem Gehalt. Daher ist die Bedeutung der
Bewegungen wichtig im Taijiquan. Wenn man aber glaubt, so eine Möglichkeit
der Selbstverteidigung für den Ernstfall zu bekommen, dann irrt
man sich. Um das Wissen in die Praxis umsetzen zu können, braucht
man nicht nur Konditionierung durch ständiges Üben, am besten
mit einem Partner, man benötigt auch körperliche Stabilität,
Muskelkraft und Geschwindigkeit. Darüber hinaus müssen die
Reaktionsfähigkeit sowie die vielfältigen Anwendungen in verschiedenen
Situationen geschult werden.
Es wird behauptet, dass Chansijing (spiralförmige Jing-Kraft)
im Yang-Stil kaum eingesetzt wird.
Es kommt darauf an, welche Form des Yang-Stils man übt. Bei der
alten Form wird Chansijing ebenso viel eingesetzt wie im Chen-Stil.
Aber selbst bei der späteren Form nach Yang Chengfu wird Chansijing
genauso benutzt, wie es benötigt wird. Wenn man bei dieser populären
Yang-Stil-Form das Chansijing nicht deutlich erkennt, so ist dies unter
anderem darauf zurückzuführen, dass die Bewegungen recht langsam
und weich ausgeführt werden. Dementsprechend ist die eingesetzte
Jing-Kraft sanft und nicht immer deutlich sichtbar. Wichtig ist, dass
die innere Achtsamkeit für Chansijing bei jeder Bewegung vorhanden
sein sollte.
Gibt es Unterschiede im Lernen und Lehren zwischen China und dem
Ausland?
Gewiss. Was das Lernen betrifft, fragen die Schüler in China den
Lehrer nicht viel. Sie respektieren und schätzen den Lehrer hoch.
Aber sie konzentrieren sich stark auf die Technik und betreiben leider
das Studium der Philosophie und die Pflege der Tradition nicht genügend,
so dass wirklich die Gefahr besteht, dass die kulturellen Schätze
in absehbarer Zukunft verloren gehen. Manchmal sind sie zwar ungeduldig
und wollen schnell vorankommen, aber sie sind doch gewohnt, eine Sache
nach der anderen zu machen, selbst wenn sie verschiedene Dinge gleichzeitig
zu lernen haben. Die ausländischen Schüler schätzen die
Philosophie und die theoretischen und kulturellen Hintergründe
des Taijiquan sehr, insbesondere die Ideen des Daoismus. Leider kennen
manche von ihnen die Wichtigkeit der Technik im Taijiquan noch zu wenig.
Wenn ein Lehrer einen Schüler genau korrigiert, wird dies manchmal
als Drill verstanden und nicht so gern akzeptiert. Viele von ihnen bleiben
nicht lang genug bei der Sache. Sie wollen viel zu viel auf einmal lernen,
so dass sie das nötige Niveau nur schwer erreichen können.
Andererseits wissen sie in der Regel, warum sie Taijiquan erlernen und
praktizieren, als Beitrag für die eigene Gesundheit, Erkenntnisgewinn
für den Alltag et cetera. Meist ist es ihnen egal, ob der Lehrer
berühmt ist oder nicht. Was das Lehren betrifft, habe ich den Eindruck,
dass viele chinesische Lehrer nicht genügend pädagogische
Fähigkeiten besitzen, um auf die individuelle Situation der einzelnen
Schüler wie Konstitution, Aufnahmefähigkeit und so weiter
einzugehen. Leider gibt es nicht gerade wenige chinesische Lehrer, die
zu Geheimnistuerei, Blendwerk und Mystifizierung des Taijiquan neigen.
Andere betreiben den Taijiquan-Unterricht als reines Geschäft.
Die meisten ausländischen Lehrer nehmen ihren Beruf ziemlich ernst
und betrachten die Lehrtätigkeit als eine Berufung. Aber leider
gibt es auch Menschen, die sich sofort zutrauen zu unterrichten, obwohl
sie selbst erst seit kurzer Zeit Taijiquan üben. Ich kann mir schwer
vorstellen, dass der Unterricht gelingt, wenn sie selbst das Taijiquan
noch nicht richtig erlernt und das Erlernte noch nicht verdaut und aufgenommen
haben.
Das Interview führte und übersetzte Foen Tjoeng Lie.
(erschienen im DAO-Sonderheft "Taijiquan" 2/00)
Foen Tjoeng Lie,
Jahrgang 1948, wurde in Indonesien und China in chinesischen Naturheilverfahren,
Qigong und Taijiquan ausgebildet. Er ist Ausbildungsleiter der Kolibri-Seminare.
Autor mehrerer Bücher war Herausgeber der Zeitschrift DAO.
Vielen Dank für die Genehmigung und die freundliche Unterstützung.
Paochui-(zurück)
oder „Kanonenfaust” wird die zweite traditionelle Form aus
dem Chen-Stil genannt. Sie wird üblicherweise schneller geübt
und enthält zahlreiche Explosionsbewegungen. Sie bildet sozusagen
das Yang-betonte Gegenstück zu der ruhigeren, mehr Yin-betonten
ersten Form.
Jing-Kraft-(zurück)
ist die besondere innere Energie, die durch die Transformation aller
Kräfte (Körper, Qi-Energie, Shen-Geist) im Körper kultiviert
wird und die Stärke der inneren Kampfkünste ausmacht. Sie
ist nicht zu verwechseln mit dem (durch ein anderes Schriftzeichen dargestellten)
Begriff Jing aus der chinesischen Medizin, der in Ermangelung eines
entsprechenden deutschen Wortes meist mit Essenz übersetzt wird.
Dieser bezeichnet zum einen die in den Nieren gespeicherten (genetischen)
Informationen sowie Materie zum Aufbau des Körpers. Oft wird es
als materialisiertes Qi verstanden. Gleichzeitig steht es auch für
Sperma und Samenflüssigkeit und Eizellen bzw. die darin enthaltene
essentielle Energie. Es gilt als einer der drei Schätze: Jing,
Qi (Energie) und Shen (Geist), die in vielfältigen Wechselwirkungen
miteinander stehen.
Yongnian- (zurück)
liegt in der Provinz Hebei im Norden Chinas und ist die traditionelle
Wohngegend der Yang Familie, in der bereits Yang Luchan (Begründer
des Yang-Stil Taijiquans) aufwuchs.Yongnian ist auch der Ursprungsort
des Wu-Stil Taijiquans.
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